Sonntags, halb acht

Gregor Langenbrinck, 02.04.2020

Früher, vor Corona, fand ich den Sonntagmorgen, so gegen halb acht, eine tolle Zeit, um kurz rauszugehen, Brötchen kaufen oder so. Kaum Autos, wenig Leute auf der Straße. An der Ecke ein Zeitungsverkäufer, das war‘s. Durchatmen, die Hektik des Alltags war kurz weg. Ein besonderes Gefühl von Freiheit, Lächeln, Vorfreude auf ruhige Stunden zuhause, Zeit mit der Familie, vielleicht joggen, was lesen, spielen mit den Kindern, mal sehen.

Jetzt, wo es immer Sonntagmorgen halb acht ist, finde ich das keinen besonderen Moment mehr. Oder anders: Es ist dauernd besonders aber nicht positiv, nein, von den Möglichkeiten her eher das Gegenteil. Nichts ist mehr freiwillig, sondern in einem elementaren Sinne unfrei. Die paar Leute, die ich zurzeit um „dauer-halb-acht“ auf dem Weg von zuhause zum Büro (noch darf ich ja dorthin) treffe, bewegen sich – mich eingeschlossen – in merkwürdig konvexen Bögen – voneinander weg. Einige tragen Mundschutz, andere Gummihandschuhe, manche beides. Auf halbem Weg komme ich an der Statue von Adenauer am gleichnamigen Platz vorbei. Sie ist mein Sinnbild dieser Tage. Warum? Erstmal zeigt sie Konrad Adenauer schnellen Schrittes gehend, mit wehendem Mantel in Richtung Ku’Damm. Irgendwie scheint er auf dem Weg, bloß weg hier, nicht stehenbleiben. Das passt ganz gut auf unsere Situation, denke ich. Der Grund dafür war freilich ein anderer: Adenauer war nicht sehr beliebt bei den Berliner:innen, weil er einst Bonn zur Hauptstadt machte. Das ist lange her, mittlerweile ist Berlin Hauptstadt, …Friedliche Revolution, Maueröffnung, Wiedervereinigung… All das geht mir kurz durch den Kopf. Doch da ist noch mehr: Konrad Adenauer war eben auch erster Bundeskanzler in einer Zeit, wo die Menschen hier einen Weg versuchten, debattiert, gerungen und gekämpft haben, um aus der Katastrophe nationalsozialistischer Diktatur in eine demokratisch verfasste Bundesrepublik zu finden. Föderal, vor allem frei sollte sie sein. Jeder sollte nach seiner Façon glücklich werden.

Nein, ich kippe hier nicht das Kind mit dem Bade aus. Die Kanzlerin hat in ihrer Rede mehr als deutlich gemacht, dass es nur absolut ausnahmsweise und nur so lang wie nötig Beschränkungen geben kann – um Menschenleben zu retten. Dennoch zeigt Corona, wie leicht sich demokratische Grundrechte einschränken, ja abschalten lassen, um der Sache willen. Einfach so, morgens um halb acht irgendwo eine Straße entlang schlendern, Menschen begegnen – ohne Gedanken, sich auf eine Bank am Adenauerplatz zu setzen, gar neben jemanden, den ich noch nie gesehen habe. Ein Eis essen, radeln, Bus oder von mir aus Auto fahren, die Gedanken treiben lassen, mich treffen, am Platz! Mit fünf, nein zehn Freunden zur Party gehen, nachhause oder in Eile zum nächsten Termin, was soll’s. Ich kann es! Diesen Wert, öffentlichen Raum frei zu betreten, ihn zu nutzen – ja, natürlich gibt es ein paar Rechte, genau dafür: Regeln im Straßenverkehr, soziale usw. –, spüre ich dieser Tage fast schmerzlich. Egal was kommt, dieses Wertgefühl nehme ich mit: Es gibt da etwas allzu selbstverständlich gar nicht Selbstverständliches, das es zu verteidigen gilt, im demokratisch verfassten Raum am Adenauerplatz und sonst wo auf der Welt.