Soziale und/oder räumliche Distanz

Tinka Legvart, 12.06.2020

Das Coronavirus brachte eine Wende: die Menschen müssen unter sich physische Entfernung halten, wünschen sich jedoch mehr denn je miteinander eng verbunden zu sein. Ganz besonders betroffen von der Krise ist das Gemeinwohl, die entscheidendste Sphäre der Gesellschaft: die Kultur, Kunst, der Schulunterricht, Sport …

Vor ein paar Wochen bekam ich eine Email von der Verwaltung des Maxim Gorki Theater. An diesem staatlichen Theaterhaus habe ich bis gerade eben als Freiberufliche an einigen Projekten mitgewirkt. Nun wurden alle Inszenierungen aus dem Repertoire bis Ende der Spielzeit, eigentlich sogar bis Ende des Kalenderjahres, auf Eis gelegt oder die Verträge beendet.

Obwohl die meisten Geschäfte und Gewerbe langsam wieder ihre Türe öffnen, das Stadtleben scheinbar zurück zur Normalität kehrt und mein Heimatland die Pandemie sogar offiziell für beendet erklärte, bleibt viel „Gemeinwohl“, vor allem im Bereich Bildung, Kunst und Kultur, weiterhin sehr eingeschränkt.

Der öffentliche Raum ist untrennbar mit dem Recht der öffentlichen Zugänglichkeit verbunden, dem Recht zu seiner Benutzung auf einer individuellen und kollektiven Ebene. Das sind nicht nur die Plätze in der Stadt, dazu können auch viele andere Räume gehören, wie z. B. in Skandinavien traditionell die Naturquellen. Viele Länder, z. B. Schottland, die Schweiz, auch Slowenien, kennen gemeinsame Hochgebirgsweiden. Dazu kommen heute die „Commons“ mit noch breiterem Umfang im Cyberspace vor, in Form von „Open Source“, „Creative Commons“ u.s.w., das dem Kapital widerspricht und als „Piraterie“ vertrieben wird.

Kunst im öffentlichen Raum ist in der Regel eine raumspezifische Kunstpraxis, also geht es nicht um künstlerische Produktionen, die zufällig da sind und überall funktionieren könnten. Auch der öffentliche Raum ist kein unbeschriebenes Blatt Papier, sondern muss als Palimpsest, ein altes mehrmals beschriebenes Pergament mit vielseitiger Geschichte, gelesen werden.

Wie in vielen Aspekten, bietet sich der momentane Ausnahmezustand als Chance. Durch Adaptierungen der traditionellen Schulstrukturen, sowohl räumlichen wie auch pädagogischen, ist es möglich neue Lernräume in der Stadt zu entdecken. Kunst-, und Sportveranstaltungen brauchen alternative Inszenierungsräume, die mit gut durchdachten Interventionen im öffentlichen Raum und Umgebungen bespielt werden sollten.

Der Virtual Space bietet sich in vieler Hinsicht als ein Zufluchtsort an, doch die Träger:innen der Kontaktsphären sollten nicht in Furch erstarren, sondern nach Ideen suchen, damit die unvermeidbare räumliche Distanz nicht in Wirklichkeit zu seiner sozialen Distanz wird.

Man kann doch nicht akzeptieren, dass mit der aktuellen Epidemie ein Ende des Aufbaues, das unsere Zivilisation repräsentiert, eingetreten ist. Es ist zu befürchten, dass das Corona Virus eines der Inhalte bleibt, die die Räume unserer Zukunft nachhaltig mitbestimmen. Es ist also höchste Zeit für neue Überlegungen zum Umgang mit den öffentlichen Räumen!