Blick von Parkbank in Geisa

Stadtflucht und Sommerfrische

Anna Eckenweber, 05.05.2020

Stadt, Land – bei diesen Worten kommen mir aktuell vier Dinge in den Sinn:
das Denkspiel Stadt, Land, Fluss, dass es mittlerweile auch als Corona-Edition gibt, unsere Auftraggeberin, die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft STADT UND LAND, die IBA-Thüringen, die sich mit dem Thema StadtLand auseinandersetzt und zuletzt meine eigene aktuelle geografische Situation.

Letzterer Punkt ist für mich neu: der Corona-Virus hat mich als Verfechterin und Liebhaberin des dicht gedrängten, pulsierenden urbanen Raums dazu gebracht, die Hauptstadt für die ruhige Idylle zu verlassen. Und ich bin nicht die Einzige. Ganz egal ob in Berlin oder Bayern, mit den (noch) anhaltenden Einschränkungen im öffentlichen Raum zieht es mehr und mehr Menschen in ihren ländlichen Zweitwohnsitz, zur Familie mit großem Haus oder die Datsche am Wochenende – sofern sie es können und dürfen.

Aber wieso? Home-Office in der kleinen Wohnung? Nein, danke! Komplettes Social-Distancing im Ein-Personen-Haushalt? Keine gute Idee! Meine Gedanken gehen weiter: Ist es auf dem Land und in Kleinstädten „sicherer“ in Bezug auf die Einhaltung hygienischer Maßnahmen als in Großstädten? Und habe ich dort vielleicht das Gefühl, stärker über meinen Alltag entscheiden zu können, da es einfach gewisse Angebote nicht gibt, auf die ich jetzt in der Stadt verordnet verzichten müsste? Mache ich es am Ende des Tages überhaupt richtig, wenn ich zum Wohle der Allgemeinheit Zuhause bleibe (#stayhome) und temporär in einen dünner besiedelten Raum umziehe? Oder bin ich nicht sogar ein potentielles Risiko für die dort überwiegend ältere Bewohner:innenschaft und deren Gesundheitsinfrastruktur, falls ich doch eine „Überträgerin“ wäre?

Ich entfliehe Berlin. In ein Haus mit großem Garten. Wir sind zu viert. Mit allen anderen bin ich digital vernetzt – genau wie meine Mitbewohner:innen vom Land. Und ich merke: eine Entkopplung von Arbeits- und Wohnort ist gut möglich.

So viel Glück wie ich haben aber nicht alle: Homeoffice und Landflucht sind Luxus im Vergleich zu den systemrelevanten Held:innen der Gesellschaft, die nicht von Zuhause arbeiten können und mehr denn je an ihrer Arbeitsstelle gebraucht werden. Ich merke, wie privilegiert ich bin: schon während der Zeit der Sommerfrische kamen zunächst diejenigen zum Durchatmen aufs Land, die es sich leisten konnten. Kulturgeograph Werner Bätzing sieht es ähnlich: „Immer, wenn das, was die Stadt eigentlich ausmacht, zu ihrem Problem wird – die Dichte, die gute Erreichbarkeit und die vielen Kontakte – ziehen sich diejenigen, die es sich leisten können, aufs Land zurück. Dafür gibt es viele historische Belege: Kriege, Krisen und auch immer wieder Seuchen, am bekanntesten ist wohl die Pest.“

Auch der Soziologe Richard Sennett sieht Unterschiede in der Pandemie zwischen Stadt und Land. Er befürchtet die Gefahr einer größeren Spaltung. Die Dichte der „kurzen Netzwerke“ sei in der Stadt weitaus höher, gerade auch bei Älteren. Er befürchte eine größere Isolation auf dem Land. Aus meinen Projekten heraus kenne ich gerade das Gegenteil – die Netzwerke sind im ländlichen Raum gefestigt und die Kommunikationswege sind kurz. So lässt sich vieles pragmatisch und schnell in der Gemeinschaft regeln.

Mir gefällt es hier – im Augenblick. Ich genieße die Sommerfrische: die weiten leeren Felder und die Nähe zu den Wäldern. Genauso freue ich mich aber wieder auf meine Wohnung in Kreuzkölln. Bei dem ein oder anderen Stadtflüchtenden bleibt aber vielleicht die Sehnsucht nach der Weite und Leere hängen und befördert die Trendwende der dauerhaften Stadtflucht.